Bilder sagen mehr als 1000 Worte

Virtual Reality (VR) hat ihren Platz in der Forschung gefunden. Wissenschaftler*innen der Berliner Hochschule für Technik aus den Bereichen Geoinformation, Informatik und Maschinenbau mischen mit. Eingesetzt wird VR etwa in der Archäologie.

Der Tunnel führt über steinerne Treppenstufen neun Meter unter die Erde, mit den Händen kann man die Wände berühren. Der unterirdische Treppengang ist 32 Meter lang und endet in einem 3,70 Meter langen, 1,80 Meter breiten und 1,60 Meter tiefen Becken, der Quelle des Wettergottes von Nerik. Beim Blick in die Tiefe des Kragsteingewölbes stellt sich leichter Schwindel ein. Während die Besucherin die Ausgrabungsstätte „Oymaağaç Höyük“ in der nördlichen Gebirgslandschaft Anatoliens begutachtet, steht sie mit beiden Füßen fest auf dem Boden im Labor für Photogrammetrie der Berliner Hochschule für Technik (BHT) in Berlin. Sie trägt eine VR-Brille. Mit einem Joystick zielt sie in die gewünschte Laufrichtung und kann so von Punkt zu Punkt springen, von jedem Areal der Grabungsoberfläche, den Treppengang hinunter bis zur Quellkammer, den Treppengang hinauf bis zum versteckt liegenden Eingang. Draußen sieht sie sich die gesamte Umgebung der antiken Ausgrabungsstätte an.

Die virtuelle Abbildung des gesamten Grabungshügels ist eines der Ergebnisse jahrelanger Grabungs- und Forschungsarbeit, bei der das Kultzentrum „Nerik“, der Krönungsort der hethitischen Könige der Frühzeit, erkundet wird. Das „Oymaağaç-Nerik-Projekt“ ist am Institut für Altorientalistik im Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin und der Universität Ušak (Türkei) angesiedelt. Seit 2011 ist die BHT mit dem Labor für Photogrammetrie am Fachbereich III – Bauingenieur- und Geoinformationswesen am Projekt beteiligt. Seitdem führt sie die photogrammetrische Datenerfassung, also die dreidimensionale Dokumentation der gesamten Grabungsoberfläche, der unterirdischen Anlage und besonderer Funde durch. „Photogrammetrisch erfasste 3D-Modelle besitzen ein großes Potenzial sowohl zur Analyse als auch zur Veranschaulichung des modellierten Objekts“, sagt Prof. Dipl.-Ing. Michael Breuer, der seit 2015 Leiter des Labors für Photogrammetrie ist und das Forschungsprojekt von seinem Vorgänger Prof. Dr. Martin Kähler übernommen hat.

Regelmäßig in der Türkei

Seit 2018 ist auch das Labor für Geomedien an dem Projekt beteiligt. „Wir sehen das kartographische Potenzial der virtuellen Realität“, sagt Laborleiterin Prof. Dr. Ursula Ripke, Professorin für digitale Reproduktion, topographische und Satellitenbildkartographie am Fachbereich III (von 1990 bis 2020). Zur Langen Nacht der Wissenschaften 2019 präsentierten die Labore gemeinsam das VR-Modell mit der unterirdischen Treppenanlage und einen 3D-Druck des Gangs. „Das wäre ohne die Ausgangsdaten, die uns die Kolleginnen und Kollegen des Labors für Photogrammetrie zur Verfügung gestellt haben, nicht möglich gewesen“, sagt Ursula Ripke.

Monika Lehmann und Marko Koch, Mitarbeitende am Labor für Photogrammetrie, fahren seit einigen Jahren regelmäßig mit bis zu zwei Studierenden in die Türkei, um die Ausgrabungen zu dokumentieren. Jeden Schritt halten sie mit digitalen Kameras fest. Insgesamt haben sie zehntausende Fotos im unterirdischen Treppengang und im Eingangsbereich gemacht und darüber hinaus auch Nassholzfunde dokumentiert, die in der Quellkammer gefunden wurden, wie beispielsweise eine fast 3.000 Jahre alte Leiter.

Für die anschließende 3D-Modellierung ist es notwendig, dass die Bilder mit einer hohen Überlappung aufgenommen werden. Jedes Objektdetail soll in mindestens drei verschiedenen Fotos aus unterschiedlichen Aufnahmerichtungen abgebildet sein. Eine aufwändige Aufgabe, für die Marko Koch als Fotograf mitunter ungewöhnliche Aufnahmepositionen finden musste. Die Decke der Quellkammer nahm der Diplomingenieur beispielsweise auf einem Holzbrett liegend auf. „Ich musste oft improvisieren, um die Messbilder machen zu können, ohne dabei wertvolle Funde zu zerstören“, sagt er. Wie Spiderman habe er sich mit seinen Kameras durch das Gewölbe bewegt. Später war es die Aufgabe von Monika Lehmann, die Daten aus der Quellkammer zu modellieren und mit den 3D-Modellen aller anderen Areale der Grabung zu fusionieren.

Cybersickness zu vermeiden

„Es ist eine ungeheure Datenmenge, die erfasst und anschließend modelliert wurde“, sagt sie. Seit 2014 begleitet die Diplomingenieurin die Durchführung der täglichen Datenerfassung über Luftbilder oder terrestrische Aufnahmen vor Ort. Um die Ergebnisse in die Virtuelle Realität zu übertragen, musste das Datenvolumen jedoch verringert werden. Diese Aufgabe übernahm Martin Vigerske, Labormitarbeiter Geomedien, der die virtuelle Reproduktion des unterirdischen Treppengangs geschaffen hat. Um die sogenannte Cybersickness zu vermeiden, die sich einstellen kann, wenn der Körper in Ruhe ist, sich virtuell aber durch einen Raum bewegt, hat er die virtuelle Welt so programmiert, dass die Betrachtenden von Punkt zu Punkt springen können.

Die virtuelle Rekonstruktion ermöglicht es, dass die Grabungsstätte, so wie sie zur Zeit der Aufnahme war, erhalten und für die Wissenschaft zugänglich bleibt. Denn die Quellkammer ist vor allem aus Sicherheitsgründen nicht frei zugänglich und wurde auch wieder mit Wasser geflutet. Nur um archäologische Untersuchungen und photogrammetrische Aufnahmen machen zu können, wurde sie von Lehm, Schlamm und Wasser befreit. Wer noch einmal den Tunnel besuchen möchte, kann sich jetzt in die virtuelle Welt begeben. „Da sehe ich ganz klar die Chance, Forschungsergebnisse leichter zur Verfügung zu stellen und zu verbreiten“, sagt Ursula Ripke. Das sei ein Gewinn für die internationale und interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Forschung.

VITALAB.mobile

Die BHT ist an einem weiteren spannenden VR-Projekt beteiligt: Kristian Hildebrand ist Professor am Fachbereich VI – Informatik und Medien, Forschungsschwerpunkte seiner Arbeitsgruppe liegen in den Bereichen Computergrafik, VR/AR und Maschinelles Sehen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Joachim Villwock vom Fachbereich VIII – Maschinenbau, Veranstaltungstechnik, Verfahrenstechnik arbeitet er mit Kolleginnen und Kollegen der Universität Hamburg, der Charité Berlin und dem Hospital zum Heiligen Geist am Projekt „VITALAB“. Ziel ist es, neuartige medizinische Therapieformen in der Virtual Reality und Augmented Reality (AR, erweiterte Realität) als innovative Konzepte zur Behandlung von Patientinnen und Patienten zu evaluieren und zu optimieren. Das Konzept der VITALABs soll dabei die Anwendungen von der Konzeption im Labor über die Zulassung bis zur Erprobung in Kliniken und Pflegeeinrichtungen begleiten.

In einer Gesellschaft, in der der Bevölkerungsanteil älterer Menschen stetig zunimmt, treten vermehrt neurologische und durch Bluthochdruck bedingte Erkrankungen auf. Besonders Bluthochdruck kann durch gezielte körperliche Aktivitäten und Therapieformen positiv beeinflusst werden. Dafür haben die Wissenschaftler*innen Trainings entwickelt, die in der Virtuellen Realität in einer interaktiven intelligenten VR-Umgebung von einem Avatar vorgeführt werden. Betroffene sehen durch die VR-Brille ein gemütlich eingerichtetes Wohnzim mer und einen Avatar, der zum Beispiel Kniebeugen oder Koordinationsübungen macht. Die Probandinnen und Probanden werden getrackt. Somit wird kontrolliert, ob sie die Übungen richtig ausführen.

Zurzeit sind die Therapieformen noch in der Erprobungsphase. Fernziel des Projekts ist jedoch, dass jeder Mensch mit Virtual Reality die Bewegungsübungen alleine zu Hause durchführen kann. „Der Versorgungsauftrag der Krankenkassen kann beispielsweise in ländlichen Gegenden oft nicht wahrgenommen werden, weil es an entsprechenden Therapierenden fehlt“, sagt Joachim Villwock. Hier könnte VR mit angeleiteten und korrigierenden Übungen eine individuelle Lösung für die Erkrankten sein.

Geschützte Umgebung

Die Konzeption und Evaluation innerhalb Deutschlands und seiner Nachbarländer erfolgt u. a. durch den Einsatz eines mobilen, interaktiven VR/AR-Labors, das von Kristian Hildebrand und Joachim Villwock entwickelt wird. Beim VITALAB. mobile handelt es sich um einen 7,5 Tonnen schweren LKW, dessen Ladefläche wie ein Wohnzimmer eingerichtet ist. „Patientinnen und Patienten sollen sich wohl fühlen, wenn sie zum Training kommen“, sagt Projektleiter Kristian Hildebrand. Gerade Menschen mit neurologischen Erkrankungen bräuchten eine geschützte Umgebung. So sind Bildschirm und Computer in die Wohnlandschaft integriert.

Mit dem mobilen Labor werden die Wissenschaftler*innen Pflegeheime und Reha-Zentren direkt anfahren. Dort Behandelte können an der Studie teilnehmen und von den neuen Therapieformen profitieren ohne lange Anreisewege in Kauf nehmen zu müssen. „Der LKW ermöglicht empirische Forschung an unterschiedlichen Orten“, sagt Kristian Hildebrand. Weiterführend soll eine interdisziplinäre Forschungsplattform aufgebaut werden, die Wissenschaftler*innen unterschiedlicher Fachgebiete die Möglichkeit bietet, VR/AR Anwendungen zu evaluieren.

Das Forschungsprojekt läuft noch bis Ende 2021, danach soll das mobile Labor an der Hochschule verstetigt werden. Damit bekäme die BHT erstmalig ein mobiles Living Lab, einen Raum für visionäre und interdisziplinäre Forschung.

Simulation von Sedimentierungsprozessen

Wie vielfältig die VR-Technik eingesetzt werden kann, zeigt auch das Projekt „OPuS“ (Optimierung von Pumpwerken durch die Simulation von Sedimentierungsprozessen), zu dem Joachim Villwock mit seinem Team in der CAVE forscht. Bereits 2017 hat die BHT mit der CAVE einen Raum zur Projektion einer dreidimensionalen immersiven Illusionswelt geschaffen.

In Berlin fallen durch Niederschläge und Abwässer aus privaten Haushalten, öffentlichen Einrichtungen, Industrie und Gewerbe große Mengen Regen- und Abwasser an, die abgeleitet und gereinigt werden müssen. Die Kanalisation muss in der Lage sein, mit dem Transport sehr großer Regenmengen zurechtzukommen. Gleichzeitig muss sichergestellt sein, dass die Feststoffe in den Leitungen in Trockenperioden nicht zu stark sedimentieren. „Hierzu müssen entsprechend dimensionierte Saugräume, in denen sich das Wasser sammelt und aus denen es in die Klärwerke gepumpt wird, sowie intelligente Verfahren zum Betrieb der Anlagen vorhanden sein“, sagt Villwock. Das Projekt „OPuS“ wird vom Euro- päischen Strukturfond (EFRE) gefördert und soll die Entwicklung von Abwassersystemen unterstützen.

Dazu hat das Team von Joachim Villwock ein Pumpwerk in der CAVE rekonstruiert und die Ergebnisse der Abwassersimulationen in das Cave Automatic Virtual Environment transferiert. Virtuell begeben sich die Wissenschaftler*innen in das Abwassersystem, sehen die Simulation der Strömung und machen Problemstellen ausfindig. In der virtuellen Umwelt können Komponenten verändert werden, um Lösungswege zu finden, indem die Auswirkungen von Veränderungen sicht- und erfahrbar gemacht werden. Die virtuelle Simulation ist insbesondere vor dem Hintergrund hilfreich, dass die Besichtigung von realen Bewässerungsanlagen aufwändig und oft gesundheitlich bedenklich ist. Der Einsatz des virtuellen Raumes ermöglicht es, Dinge zu visualisieren und vor Ort mit Studierenden, Forschenden anderer Disziplinen und Auftraggebern auf einer gemeinsamen Ebene zu kommunizieren. „Durch VR wird die Kommunikation über komplexe Zusammenhänge viel leich-ter“, sagt Villwock. Der Einsatz von Virtual Reality stärke somit die interdisziplinäre Zusammenarbeit.


Weitere Informationen

NERIK: Die Ausgrabungen auf dem Oymaağaç Höyük werden aktuell von der Deutschen Forschungsgemeinschaft und der Gerda Henkel Stiftung gefördert mit Genehmigung und Unterstützung des Türkischen Misteriums für Kultur und Tourismus. Ziel des Projektes ist es u. a. durch die Kombination geistes- und naturwissenschaftlicher Methoden, eine umfassende Vorstellung der antiken Stadt Nerik zu gewinnen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Freilegung einer 2.500 qm großen Tempelanlage auf der Hügelkuppe und die Erforschung des 32 Meter langen unterirdischen Gangs, der Quelle des Wettergottes von Nerik. Alle Interessierten und potenzielle Mitstreiter/-innen sind herzlich eingeladen. www.nerik.de

VITALAB: VITALAB ist ein mit 1,78 Millionen Euro gefördertes, dreiphasiges Projekt vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF), um neue virtuelle Trainings- und Therapiemodelle für neurologische, physiologische und psychologische Krankheitsbilder zu entwickeln. Die virtuellen Therapieformen wurden in Laborstudien im VITALAB.First an der Universität Hamburg auf ihre Machbarkeit und Effektivität überprüft. Erste klinische Feldstudien finden im VITALAB.One im Hospital zum Heiligen Geist statt. Für Phase drei haben Kristian Hildebrand und Joachim Villwock von der BHT ein mobiles Labor entwickelt – das VITALAB.mobile. www.vita-labs.de/mobile


Stand: 15.04.2020

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